Stress im Familienleben - 4 Strategien zur Stressregulation
Was passiert bei Stress in unserem Körper und wie geht man damit um?

- November 27, 2021
- Jutta Merschen
Alle, die zuhause den Familienalltag managen, kennen eines sehr gut: Stress. Manchmal entstehen stressige Situationen wie von selbst, weil wieder einmal alles zusammenfällt. Die Waschmaschine gibt den Geist auf, das Kind ist krank oder quengelt die ganze Zeit und das Mittagsessen auf dem Herd kocht sich auch nicht von alleine. Andere Stresssituationen hingegen sieht man schon auf sich zukommen, ohne dass man sie im Vorfeld entschärfen könnte, beispielsweise Familienfeste wie Weihnachten oder der Start in den langersehnten Familienurlaub.
Doch was passiert, wenn wir richtig in den Stress geraten? Wir verlieren die Verbindung zu uns selbst und unseren Ressourcen und wir reagieren reflexhaft. Und das führt oft dazu, dass Situationen eskalieren – mit den Kindern, mit Partner oder Partnerin oder auch in Bezug auf unsere Erwartungen an uns selbst.
Was bei Stress mit uns passiert
Unsere gewohnten Routinen, die uns sonst Stabilität bieten, kommen aus dem Gleichgewicht. Wir stehen unter einer ganz besonderen Anspannung und wollen unseren eigenen Ansprüchen und denen der Kinder, Partner*innen und anderen Familienmitgliedern gerecht werden.
Neben unseren organischen Reaktionen wird in unserem Körper ein Hormoncocktail aus Adrenalin, Cortisol, Endorphinen und Oxytocin ausgeschüttet. Das führt dazu, dass wir kurzzeitig leistungsfähiger werden. Doch dieser Erregungszustand hat oft auch zur Folge, dass wir weniger rational denken können. Je mehr wir im Stress stehen, desto weniger können wir auf unser Wissen, unser logisches Denken und auf unsere Empathiefähigkeit zugreifen. Wir verlieren quasi den Zugriff auf einen Teil unseres Gehirns! Auf die Bedeutung von Stress und Wut und einen guten Umgang damit gehen wir auch in unserem Bestseller-Audiokurs „Konflikte mit Kindern verstehen und lösen“ detailliert ein.

Unsere natürlichen Reaktionen auf Stress
Unsere spontanen, natürlichen Reaktionen, wenn wir mit den Kindern in den Stress geraten, sind Kampf, Flucht oder Erstarrung. Wir sind nicht mehr im Kontakt mit unseren Ressourcen, sondern gesteuert von unseren Reflexen im Stammhirn, dem ältesten Teil unseres Gehirns.
Wenn wir Kampf wählen, lassen wir uns auf Streit oder Machtkämpfe ein, üben Druck aus und wollen eine gewisse Lösung erzwingen durch unsere elterliche Macht. Wenn es dir so geht wie mir, dann hat das selten den gewünschten Effekt.
Flucht bedeutet, die Situation zu reflexhaft zu verlassen, ohne sie vorher geklärt zu haben oder den Rückzug für die Kinder als kurze Auszeit begreiflich zu machen. Aus dem Zimmer der Kinder zu stürmen ist eine typische Fluchtreaktion.
Erstarrung als dritte natürlich Reaktion auf Stress drückt unsere Überforderung durch vollkommene Resignation aus. Wir sind unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, zu handeln. Wir hoffen einfach, dass sich die Situation von selbst löst – was ebenso selten der Fall ist.
Klärungsprozesse brauchen Distanz - und Distanz kommt durch Selbstregulation
Wenn wir merken, dass wir in der Interaktion mit unseren Kindern “in Fahrt” kommen, dann brauchen wir laut dem Psychologen Haim Omer vor allem eines: die Fähigkeit zur Deeskalation. Heißt konkret, wir brauchen zeitliche, räumliche und emotionale Distanz. Diese Distanz ermöglicht uns dann die Wahl unseres Verhaltens und die Verbindung mit unserem Wissen, unseren Strategien, unserem Wesen. Erst dann können wir faire, bedürfnisorientierte Lösungen zu finden.
Die Herausforderung ist nur: Wir müssen uns dafür im Stresszustand zunächst selbst regulieren. Wir können keinen Streit unter Geschwistern schlichten, wenn wir selbst total gestresst sind.
Glücklicherweise haben wir einen Regulierungsmechanismus, den wir immer bei uns tragen: unseren Körper. Unser Körper kann uns an jedem Punkt auf der Stresskurve helfen. Egal, ob wir gerade die ersten Anzeichen einer stressigen Situation bemerken oder ob wir kurz davor sind, mit Kampf, Flucht oder Erstarrung zu reagieren.
4 Strategien für Stressabbau
Um zurück in die Zone zu kommen, in der wir deeskalierend handeln und vernünftige Lösungen finden können, können wir uns die Strategien aus der Körperregulation zunutze machen. Die Forschung zeigt, dass solche Übungen stabilisierende Neurotransmitter entstehen lassen, die uns helfen, unser Stresslevel zu regulieren. Wichtig dabei ist: Regulieren heißt nicht wegdrücken. Wir dürfen Wut, Ärger, Ohnmacht fühlen, aber wir müssen in genau dieser stressigen Situation, in wir solch große Gefühle spüren, nicht sofort handeln.
Die von der Ärztin Dr. Claudia Croos-Müller entwickelte Body2Brain-Methode gibt uns dafür 4 konkrete Beispiele.
1. Atmung
Die bewusste und tiefere Atmung bringt uns raus aus der Stresszone. Das Gehirn bekommt mehr Sauerstoff. Außerdem können wir nicht schreien oder schimpfen, wenn wir uns gerade ganz bewusst auf unsere Atmung konzentrieren. Bewusstes Atmen bedeutet dabei, Ein- und Ausatmung ganz achtsam wahrzunehmen und zu spüren, wie der Stress mit jedem Atemzug ein klein wenig von uns abfällt.
2. Bewegung
Hüpfen, Tanzen, Aufstampfen, im Rückwärtsgang gehen, Treppen laufen, die Schulter rollen, Arme schwingen – was immer dich in Bewegung bringt, reduziert dein akutes Stresslevel.
3. Deine Stimme
Einen kleinen Monolog führen – egal ob innerlich oder als lautes Selbstgespräch. Singen, summen, pfeifen oder ein kurzes Gespräch mit einer vertrauen Person führen. Über unsere Stimme helfen wir unserem Gehirn, sich wieder mit dem Teil zu verbinden, der Wissen, Gedanken und Wahlmöglichkeiten für uns bereithält.
4. Berührung
Berührungen an der Mitte der Stirn mit den Daumen, kaltes Wasser an den Händen oder die Klopftechnik aus der Stressbewältigung. All diese kleinen Strategien ermöglichen es uns, uns mit uns selbst und unserer Kraft zu verbinden und uns selbst zu beruhigen.
Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum
Die Idee der Selbstregulation ist, dich von der Außenfokussierung auf den Trigger oder das unerwünschte Verhalten in die Innenfokussierung zu bringen und deine Kraft, deine Ressourcen und Fähigkeiten wieder wahrzunehmen. Sei geduldig mit dir selbst – nur Übung macht den Meister oder die Meisterin.
Der Psychologe und Holocaust-Überlebende Viktor Frankl schrieb: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum haben wir die Wahl der Entscheidung.“ Genau dieser Raum ist der Schlüssel zu weniger Stress.
Wenn du auch Situationen aus deinem Familienalltag kennst, in denen dir alles zu viel wird, interessiert dich vielleicht auch unser Audiokurs „Gut gegen Mental Load„. Darin erklären wir, warum es oft so belastend sein kann, alles gleichzeitig im Hinterkopf zu behalten und mit welchen Tipps und Tricks du mit diesen stressigen Situationen umgehen kannst.
Quellen:
Croos-Müller, C. (2019): Bleib cool: Das kleine Überlebensbuch für starke Nerven Soforthilfe bei Stress, Arbeitsfrust & Co. https://www.amazon.de/Bleib-cool-%C3%9Cberlebensbuch-Soforthilfe-Arbeitsfrust/dp/3466347424.
Mauritz, S.: Fight, Flight, Freeze. https://www.resilienz-akademie.com/fight-flight-freeze/.
Omer, H., Streit, P. (2016): Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern. https://www.amazon.de/Neue-Autorit%C3%A4t-Geheimnis-starker-Eltern/dp/3525491581.